Volodymyr Artiukh, Rosa Luxemburg Stiftung:
Wegen des Kriegsrechts gibt es in den Massenmedien kaum Debatten. Öffentliche Diskussionen beschränken sich auf Korruptionsskandale in der Regierung, insbesondere bei der Beschaffung von militärischem Nachschub oder auffälligen Ausgaben. Eine Reihe von Regierungsbeamt*innen wurde deswegen gefeuert und Regierungsmitglieder dürfen nun das Land nicht mehr verlassen. Und dann gibt es Diskussionen um die Frage, ob russische Symbole und die russische Sprache im öffentlichen Raum verboten werden sollen. Solche Forderungen kommen vor allem aus der Zivilbevölkerung und weniger von staatlicher Seite, auch wenn aus Selenskyjs Umfeld einige laute Stimmen zu hören sind.
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Einzelne Kapitalist*innen konnten Verträge im Rahmen des militärisch-industriellen Komplexes ergattern, aber es wäre lächerlich, die Interessen einzelner Unternehmer*innen als treibende Kraft hinter dem Krieg zu sehen, wie manche Linke es tun. In Russland ist es weniger die Suche nach Profit, als vielmehr staatlicher Zwang, der Unternehmer*innen zur Erfüllung ihrer Verträge in diesem Bereich treibt.
Insgesamt hat der Krieg die ehemals sogenannten «Oligarchen» in Russland wie in der Ukraine einiges an politischem Einfluss gekostet. In Russland sind sie nun völlig vom Kreml abhängig und in der Ukraine sind sie den Entoligarchisierungs-Maßnahmen zum Opfer gefallen, die von der Staatsspitze und den westlichen Alliierten vorangetrieben wurden.
Die einzige Gruppe, die als Gewinner aus dem Krieg hervorgeht, sind die militär-bürokratischen Eliten, die ein parasitäres Verhältnis zu Arbeiter*innen und produktiven Kapitalist*innen haben. Putins Entscheidung für einen umfassenden Krieg hat ihren Ausgang in diesen Kreisen. Sie sind nicht per se auf Anhäufung von Kapital aus, sondern auf Anhäufung von Herrschaftsgewalt, die langfristig gegen Kapital eingetauscht werden kann. Sie formen einen Machtblock und kooptieren ausgewählte Kapitalist*innen und Arbeiter*innengruppen.
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Im Moment haben ukrainische Wissenschaftler*innen und solche, die sich mit der Ukraine befassen, Auftrieb. Sie versuchen, die alte Garde der Regionalwissenschaften – in der Regel auf Lehrstühlen sitzende westliche weiße Männer mit russischem Emigrationshintergrund – vom Sockel zu stoßen. Anstatt rationaler Argumente bringen sie «ukrainische Stimmen» ins Spiel, Stimmen, die sie aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit oder Herkunft zu repräsentieren meinen. Andere «Stimmen» müssen dann entsprechend heruntergeregelt werden.
Ich glaube aber, dass diese Zeit fast wieder vorbei ist. Es ist klar, dass künftig Forschungsgelder dafür fließen werden, Russland als Hauptgegner des Westens in der Region zu analysieren, ähnlich wie wir es aus der Zeit des Kalten Krieges kennen. Was hier zählt, sind echte Expertise und wissenschaftliches Ansehen – nicht das Raunen irgendwelcher «Stimmen». Die alten Regionalwissenschaftler*innen werden ein noch besseres Standing haben als zuvor – und mit ihnen vielleicht eine Gruppe junger ausgewanderter russischer Dissident*innen. Studierende werden sich für die russische Sprache, Kultur und Politik interessieren. Die Zeit wird zeigen, wie viele nicht russische oder nicht-russozentrische «Stimmen» dann noch gehört werden.