Als ich in ihrer Wohnung in der Zelterstraße aufkreuzte, nahe dem S-Bahnhof Prenzlauer Allee, und meine Lieder sang, hörte ein Mädchen zu, die hübsche Nina mit kullernden Tollkirschaugen. Sie schätze den neuen Kerl ihrer Mutter ab. Und plötzlich kreischte das kleine Monster mir mitten ins Lied: »Du sollst meinen Walter Ulbricht nicht ärgern!!!« Das war so exaltiert, wie Nina immer war und blieb. Sie war zehn Jahre alt, ein braver Junger Pionier. Sie fuhr mit ihrer berühmten Mama im weißen offenen Škoda-Flitzer zu Stippbesuchen ins Ghetto der SED-Elite, in das strengstens bewachte Wandlitz im Norden von Ost-Berlin.

—Wolf Biermann, »Warte nicht auf bessre Zeiten!«, (Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH, 2016), 185.

Wikipedia:

Tal der Ahnungslosen war ein sarkastischer DDR-Ausdruck für Gebiete, in denen Westfernsehen und –UKW-Rundfunk nur schwer zu empfangen waren. Konkret galt das für den Raum um Greifswald im Nordosten der DDR und den Bezirk Dresden, in denen der Empfang nur mit großem Aufwand terrestrisch erfolgen konnte.

Die Bewohner dieser Gebiete galten in der DDR als schlecht informiert, weil sie nur über Informationen der Lang-Mittel- und Kurzwellen­sender sowie der zensierten DDR-Medien verfügen konnten. Ihre Zahl machte etwa 15 % der Bevölkerung der DDR aus.

Ω Ω Ω

Eine Studie (Kern und Hainmueller, 2009)[1] kam durch Auswertung von Unterlagen der DDR-Staatssicherheit zu dem Ergebnis, dass die Bevölkerung in den Gebieten ohne Empfang des Westfernsehens und -rundfunks weniger zufrieden mit dem politischen System war als in Gebieten mit diesen Medien, was sich unter anderem in einer höheren Zahl von Ausreise­anträgen niederschlug. Die Autoren führen dies darauf zurück, dass die westlichen Medien vor allem als Unterhaltungs­quelle genutzt wurden (medialer Eskapismus), nicht aber, um das DDR-Regime zu hinterfragen. Die virtuelle Emigration senkte offenbar den Leidensdruck und stabilisierte dadurch das SED-Regime.[2] Eine andere Hypothese besagt, dass die Unzufriedenheit die Folge eines wegen Mangels an verlässlichen Nachrichten idealisierten BRD-Bildes war. Kern und Hainmueller finden dafür ebenfalls Evidenz, die jedoch keine statistische Signifikanz erreicht, sodass sie zu dem Schluss kommen, das Phänomen sei hauptsächlich auf den Unterhaltungswert des Westfernsehens zurückzuführen.

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